Bauen, Einrichten & Versorgen

Gespräche am Gartenzaun - Der (innen-)architektonische Blick auf die Pandemie

06.07.2020 -

Die Corona-Krise rückt die eigenen vier Wände in ein neues Licht – und macht spürbar, wie es ist, von der Außenwelt entrückt und von anderen Menschen getrennt zu leben. Können wir beim Bauen und Gestalten von Pflegeeinrichtungen davon lernen? Wie sieht überhaupt der Beitrag des Innenarchitekten und Architekten aus? Matthias Erler von medAmbiente befragte dazu Stefan Drees von Feddersen Architekten.

Herr Drees, ein Virus hat uns alle im Griff. Auch nach seinem langsamen Abschied werden wir ihn sicher noch lange spüren. Das fordert jede Profession heraus – welche Fragen stellen sich der Architektur und Innenarchitektur?

Stefan Drees: Universelle Fragen der Wohnqualität werden insgesamt wieder präsenter. Vor der Pandemie fand das Leben ja zu großen Teilen in öffentlichen Räumen statt: in Restaurants, Bars, Kinos, Theatern und auf der Arbeit. Die eigene Wohnung war für viele, überspitzt gesagt, lediglich ein mehr oder weniger wohnlich gestalteter Schlafplatz. Unter den Bedingungen der Pandemie hat sich der Fokus verschoben, die Menschen sind nun viel stärker auf ihren individuellen Wohnraum verwiesen, dadurch stellen sich die Fragen der Qualität dieses Wohnraums neu. Wenn man nicht mehr ins Öffentliche ausweichen kann, werden die Stärken und Schwächen der unmittelbaren Umgebung offensichtlicher. Das gilt in verstärktem Maße natürlich auch für Menschen mit eingeschränkter Mobilität.

Sie sagen, das sei gewissermaßen das, was die Fachleute aus Architektur und Gesundheit schon immer gefordert haben. Spüren Sie jetzt schon – oder erwarten Sie – eine höhere Sensibilität für diese Themen?

Stefan Drees: Die teils dramatischen Situationen in Pflegeheimen – mit zahlreichen Covid-19-Ausbrüchen und den daraus resultierenden Besuchsverboten – hat nach meinem Eindruck die Situation von Menschen mit eingeschränkter Mobilität stärker ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Die Bilder von Angehörigen vor Pflegeheimen, die versuchten, von der Straße aus durch die Fenster mit den Bewohnern zu sprechen, hat – so hoffe ich – auch zu stärkerer Empathie geführt. Und zur allgemeinen Überzeugung, dass wir uns stärker um die Wohnqualität solcher Einrichtungen kümmern müssen.

Abstand ist eines der Hauptworte dieser Pandemie. Aber Distanz zu schaffen, stand ja bislang nicht gerade im Pflichtenheft des Gestalters?

Stefan Drees: Tatsächlich vollzieht sich unter Pandemiebedingungen gerade ein absurder Paradigmenwechsel hin zum Abstandhalten. Aber eine Rückkehr zu einer an Distanz orientierten Architektur kann ja nicht die Antwort sein. Teilhabe war und bleibt das wichtigste Thema für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Ihnen trotz des gebotenen Infektionsschutzes eine aktive und passive Teilhabe zu ermöglichen, muss die Aufgabe aller an der Gestaltung solcher Räume Beteiligten sein. Die Schaffung niedrigschwelliger Teilhabemöglichkeiten ist eine grundlegende Bauaufgabe, nicht nur in pandemischen Zeiten. Das heißt, das Zusammenkommen mit Menschen von außen, mit Angehörigen, muss genauso ermöglicht werden, wie es Orte geben muss, um das Geschehen aus der Distanz heraus zu beobachten oder auch private Orte. Wichtig dafür – und besonders in Pandemiezeiten – ist auch die Freiheit, sich assistenzfrei bewegen zu können. Das entlastet sowohl die Bewohner als auch die Pflegenden.

Wie kann Architektur diesen Wechsel begleiten? Welche Qualitäten sind es, die Architektur und Innenarchitektur hier vor allem schaffen können?  

Stefan Drees: Es muss darum gehen, die Qualitäten der Innen- und Außenräume so zu verbessern, dass sie Orte schaffen, an denen aktive und passive Teilhabe möglich sind. Wie in einem Restaurant, wo man die Wahl hat, entweder an einem großen Tisch in der Mitte mit vielen Manschen zusammenzusitzen oder an einem kleinen Tisch etwas abseits Platz zu nehmen, von dem aus man das Getümmel beobachten, aber doch für sich sein kann. Diese Wahlmöglichkeiten zu schaffen, war schon immer ein wichtiges Thema bei der Gestaltung betreuter Wohnformen, egal, ob ambulant oder stationär. Unter Corona bekommt aber besonders die Schaffung von passiven Teilhabemöglichkeiten ein stärkeres Gewicht. Das Ziel muss ein offenes, gut strukturiertes und überblickbares Haus sein, in dem man sich nicht eingesperrt fühlt, in dem man beobachten kann und auch gesehen wird.

Lösungen und Ideen sind ja in erster Linie für den Bestand dringend nötig?

Stefan Drees: Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, in den Einrichtungen sichere und angenehme Räume für Einzelbegegnungen zu schaffen. Dafür kann man im Bestand halböffentliche „Zwischenräume“ nutzen, etwa das Foyer oder eine Kaffee-Ecke. Diese ließen sich zum Beispiel durch Trennwände unterteilen, mit Tisch und Stühlen ausstatten für ein „together apart“.  Das mag auch eine Chance sein, wieder mehr  über Aufenthaltsqualität nachzudenken. Zum Nachdenken über den Bestand gehört es natürlich auch, eine würdige Lösung für das notwendige Desinfektionsritual zu schaffen, das die Besucher vor einer Begegnung mit den Bewohnern zu absolvieren haben. Eine Art mobile Garderobe oder Tresen um Mitgebrachtes abzulegen, Schutzkleidung anzuziehen, mit einem Desinfektions- und Maskenspender. Das alles müsste einem natürlichen Ablauf folgen, ohne einen Wald an Verbots- und Vorschriftsschildern.

Was könnte vielleicht zusätzlich bei neugebauten Pflege- und Seniorenwohnprojekten berücksichtigt werden?

Stefan Drees: Wir  müssen wieder ein stärkeres Augenmerk auf flexibel nutzbare Räume im Eingangsbereich der Häuser legen, die bei Bedarf als Begegnungsräume oder Treffpunkte dienen. Ich stelle mir heitere, helle und atmosphärisch angenehm gestaltete   Besuchsräume vor, möglichst mit Blick und Zugang in den Garten oder Vorplatz, in denen man gerne verweilen möchte und gleichzeitig Distanz wahren kann. Man kann Abstand durch Raumteiler oder einen großen Tisch mit einer Trennscheibe herstellen, an dem man aber auch zusammen Kaffee trinken kann, jeder auf seiner Seite. In infektionsfreien Zeiten könnten diese Räume für Therapien oder ähnliches genutzt werden.

Apropos: wir plädieren schon lange für eine klare Sphärentrennung zwischen halb-öffentlichem Raum und dem privaten Wohnraum in der Gruppe. Der halb-öffentliche Raum kann ganz zwanglos die Funktion eines Übergangsraumes für niedrigschwellige Begegnungen übernehmen – also eine Art Schleuse im Universal Design. Die Wohnung kann in solchen Extremsituationen wie einer Pandemie durchaus tabu sein, ohne dass man deswegen darin vereinsamt.

Wie schon erwähnt, sollten Innen- und Außenbezüge verstärkt in die Planung einbezogen werden, etwa Terrassen und Bewohnerzimmer mit direktem Gartenzugang, am besten mit einer Überdachung als Schutz gegen schlechtes Wetter. So könnten Besucher über den Garten kommen und müssten nicht quer durch die Einrichtung laufen, während Bewohner und Pfleger von innen kämen. Auch eine Renaissance von Balkonen im Pflegebereich, wie es sie in der Schweiz standardmäßig gibt, wäre in diesem Zusammenhang wünschenswert.

Gartenzaungespräche zwischen Bewohnern und Angehörigen zu ermöglichen, wäre eine weitere Idee für niedrigschwellige Begegnungen. Eine natürliche Barriere durch Hecken und Büsche würde auch demenzkranken Menschen auf natürliche Weise helfen, Abstand zu wahren.

Es wurden Besuchscontainer etc. entwickelt – lassen sich solche Provisorien quasi fest in die Architektur installieren? Inwieweit ist das langfristig sinnvoll?

Stefan Drees: Als provisorische Lösungen haben Container ihre Berechtigung, daraus sollten aber keine festen Bestandteile im Pflegeheimbau werden. Das hieße ja, den Ausnahmezustand quasi zum Normalzustand zu erklären. Im Vordergrund sollte aber immer das Thema Wohnlichkeit stehen, ob nun unter Pandemiebedingungen oder nicht. Die Antwort kann dauerhaft nur in flexibel nutzbaren Räumen an der Schnittstelle zwischen privat und öffentlich liegen.

Außenräume spielen eine zunehmende Rolle. Wie könnten sie mit Rücksicht auf so eine Epidemie gestaltet sein?

Stefan Drees: Assistenzfrei und sicher nutzbare Außenräume halte ich immer schon für ein ganz zentrales Anliegen. Sie erhöhen die Freiheit und damit die Lebensqualität für die Bewohner und entlasten gleichzeitig die Pflegekräfte. Gerade jetzt, in Zeiten von Corona, sehen wir, dass die Bewohner oft gar mehr rauskommen und nur ans Haus gebunden sind, weil ihre Angehörigen sie nicht mehr zu Spaziergängen abholen dürfen und die Pflegekräfte das in dieser angespannten Lage auch nicht leisten können. Das ist für mich persönlich eine schwer erträgliche Vorstellung, der „frischen Luft“ beraubt zu sein. Gärten müssen in jeder Hinsicht frei zugänglich konzipiert werden und sie werden – bei entsprechender Gestaltung auch Raum geben für beiläufige Begegnung.

Sprechen wir noch etwas näher über die Innenräume . . .

Stefan Drees: Eine gut gestaltete Einrichtung – sei sie ambulant betreut oder stationär – ist gut strukturiert, überschaubar und luftig im wortwörtlichen Sinn. Das kann zum Beispiel ein einhüftiger Flur sein, der um einen Patio herumführt – das schafft Durchblicke und eine gute Orientierung. Es muss und kann gelingen, Orte für Nähe und Distanz in ein wohnliches Umfeld einzubetten. Das kann man schon mit ganz simplen Maßnahmen erreichen, z. B. indem man Lieblingsplätze schafft, wie einen gemütlichen Sessel oder eine Bank an einem hellen Platz.

Die Pflege demenzkranker Menschen ist ohne menschliche Nähe und Zuwendung kaum vorstellbar – von Palliativstationen ganz zu schweigen. Wie stellt sich das vor dem Filter des architektonischen Blicks dar?

Stefan Drees: Sie haben recht, demenzkranke Menschen sind von den Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie in besonderer Weise betroffen. Die Masken machen ihnen häufig Angst, von Videoanrufen sind sie überfordert und sie verstehen nicht, warum kein Besuch mehr kommt. Gleiches gilt für die Angehörigen, die ja auch nicht einfach zum Telefonhörer greifen können.

Unmittelbarkeit mit allen sensorischen Erfahrungen kann nicht kompensiert werden und wir müssen ganz dringend den nötigen Raum dafür schaffen.  Die architektonischen Mittel sollten aber sich nicht von denen unterscheiden, die wir für Menschen ohne Demenz entwickeln und umgekehrt Wir müssen uns um Räume bemühen, die der Intimität dieser kostbaren Momente gerecht werden.

In der palliativen Pflege oder in Hospizen gilt das natürlich in erhöhtem Maße. Besuchsräume können da keine adäquate Antwort sein. Separate Gartenzugänge – der ohnehin oftmals einstöckigen Häuser – bieten hier eine gute Möglichkeit, Begegnung zu vermeiden, ohne auf Nähe verzichten zu müssen.

Herr Drees, die ersten Reaktionen auf die Pandemie waren von Eile, Pragmatismus und der Notwendigkeit geprägt, für Sicherheit zu sorgen. Wie können wir es aus Ihrer Sicht schaffen, daraus keinen inhumanen Dauerzustand zu machen?

Stefan Drees: Es stimmt – Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, teilweise sogar die Grundrechte der Bewohner, mussten hinter den Schutzmaßnahmen zurückstehen. Als Architekten müssen wir zukünftig Wege finden, wie wir speziell den Menschen in betreuten Wohnformen stärker selbstbestimmtes Handeln ermöglichen können. Beispiele dafür habe ich genannt: assistenzfrei nutzbare Innen- und Außenräume,  niedrigschwellig erreichbare Begegnungsräume und überschaubare und luftige Wohnverhältnisse.

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