Keine Überweisung in die Fußambulanz – ein Behandlungsfehler?
15.05.2024
- Der koordinierende Arzt steht in der Verantwortung für die Prävention von Wundinfektionen bei Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom zu sorgen.
Ulzera, die sich nicht schließen, können unumkehrbare Folgen wie Amputationen und Todesfälle nach sich ziehen. Das Risiko ist, je Ulkusart, unterschiedlich hoch. Bei einem Diabetischen Fußsyndrom (DFS) oder bei malignen Hauterkrankungen ist das Risiko einer Amputation besonders ausgeprägt. Beim DFS sind Amputationen in 10 bis 20 % der Fälle zu verzeichnen, in circa 6 % der Fälle versterben die Patienten vor dem Wundschluss an überwiegend kardiovaskulären Begleiterkrankungen.
Dauerhafte, spezialisierte Behandlung gefordert
Daher fordert die internationale Leitlinie für die Betreuung von Menschen mit DFS „eine medizinische Versorgungsstruktur, welche auf die Bedürfnisse der Patienten ausgerichtet ist“. Hierbei ist besonders hervorzuheben, dass für dieses Patienten-klientel eine dauerhafte Behandlung und Betreuung notwendig ist. Eine Beschränkung der Behandlung auf die Versorgung der akut auftretenden Probleme ist nicht zweckmäßig, um das dargestellte Gefahrenpotenzial nachhaltig zu kompensieren.
Vielmehr muss ein ganzheitlicher An-satz unter Beteiligung unterschiedlichster Fachdisziplinen verfolgt werden, bei welchem das Geschwür nicht nur als singuläre Wunde, sondern als Zeichen einer Multiorgankrankheit angesehen wird. Die sachadäquate Behandlung und Versorgung erfordert immer ein gut organisiertes und eingespieltes Behandlungsteam.
Es entspricht dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Forschung, dass Patienten mit den oben beschriebenen Krankheitsbildern zwingend an Einrichtungen zu überweisen sind, die sich auf die Behandlung dieses Patientenklientels spezialisiert haben. Dazu heißt es in der Leitlinie: „ […] alle Menschen mit Diabetes und einem aktiven Diabetischen Fußulkus (DFU) sollten unverzüglich an ein multidisziplinäres diabetisches Fußteam überwiesen werden […] “
Darüber hinaus hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Disease Management Programm (DMP) „Diabetes mellitus Typ 2“ festgelegt, dass eine Überweisung in eine, auf die Behandlung des Diabetischen Fußes spezialisierte Einrichtung (Diabetische Fußambulanz) stattfinden muss und zwar „bei oberflächlicher Wunde mit Ischämie, bei allen tiefen Ulzera (mit oder ohne Wundinfektion, mit oder ohne Ischämie) sowie bei Verdacht auf Charcot-Fuß“. Bei allen anderen Stadien des DFS soll die Überweisung zumindest erwogen werden, so der G-BA.
Der G-BA als einer der wichtigsten Organe der Selbstverwaltung setzt da-mit die Behandlung, welche sich am anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Forschung zu orientieren hat, unter Berücksichtigung von evidenzbasierten Leitlinien oder nach der jeweils besten, verfügbaren Evidenz um. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Deutsche Diabetesgesellschaft, Einrichtungen, die sich auf die Behandlung solcher Krankheitsbilder spezialisiert haben, zertifiziert. In manchen DMP-Verträgen sind diese genau definiert.
Fallbeispiele
Nachfolgend zwei Beispiele, welche die fatalen Folgen für die Patienten bei unsachgemäßer Behandlung, aufzeigen:
1. Fallbeispiel: schlechte Compliance?
Ein 42-jähriger Lagerist ist seit dem 21. Lebensjahr an einem Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt und leidet seit nunmehr fünf Jahren an einer Polyneuropathie. Dieser Patient erleidet einen Charcot-Fuß. Er ist in orthopädischer Behandlung. Die Diabetes-Schwerpunktpraxis mit zertifizierter Fußambulanz, in der sich der Patient wegen des Diabetes einmal pro Quartal vorstellt, wird wegen des aufgetretenen Charcot-Fußes nicht eingeschaltet. Es kommt zu verschiedenen Pannen. Unter anderem findet die Ruhigstellung in einer Cast-Schiene statt, die der Patient nach einigen Wochen anweisungsgemäß ablegt.
Danach soll er den Fuß mit 15 kg teilbelasten. Erschwerend kommt hinzu, dass er mit seiner Familie in den Sommerurlaub fährt, so dass ihm die reduzierte Belastung des Fußes nicht gelingt. Es folgt eine dramatische Deformierung mit bleibender Gehbehinderung. Seine Arbeit wurde während eines Krankenhausaufenthaltes gekündigt und bei niedrigem Ausbildungsstand und der Gehbehinderung konnte seit sechs Monaten keine neue Arbeit gefunden werden. Der Orthopäde spricht von einer schlechten Compliance des Patienten, der sein Schicksal selbst zu verantworten habe.
2. Fallbeispiel: inzifierter Fußulkus
Eine 78-jährige Patientin mit einem, seit zwei Jahren bestehenden Diabetes mellitus Typ 2 erleidet ein Ulkus am Mittelfußknochen (unter MTK 5). Neben einer Neuropathie besteht auch eine pAVK. Die Versorgung erfolgt auf Anweisung des Hausarztes mit Lokaltherapie und einem Verbandschuh, eine Entlastung der Wunde erfolgt nicht.
Als Begründung für die fehlende Entlastung wird ärztlicherseits angeführt, die Patientin habe einen Vorfußentlastungsschuh nicht tragen wollen. Die naheliegende Diabetes-Fußambulanz wird nicht konsultiert. Das Fußulkus infiziert sich und nach mehreren Krankenhausaufenthalten kommt es zur Unterschenkelamputation.
Bewertung der fehlenden Heranziehung der Fußambulanz
In beiden Fällen ist die Vermittlung einer alltagsadäquaten Ruhigstellung oder Entlastung nicht gelungen. Eine Diabetes-Fußambulanz ist in der Kommunikation mit Menschen, die aufgrund der Polyneuropathie Schmerzen nur noch teilweise oder gar nicht mehr wahrnehmen, spezialisiert. Der Behandler muss im Rahmen der so wichtigen therapeutischen Aufklärung (§ 630 c Absatz 2 BGB) die Besonderheiten dieser Patienten, wie z. B. das Phänomen des „Leibesinselschwundes“, zwingend einer Berücksichtigung zuführen.
Eine Diabetes-Fußambulanz ist ferner so vernetzt, dass dem Patienten unterschiedliche Strategien der Entlastung angeboten werden können. In den vorliegenden Fällen hat die Nichtbeachtung der Überweisungsregeln, die gemäß der Leitlinien, dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Forschung zu entsprechen hat, bei den beiden Patienten diese fatalen Rechtsgutverletzungen hervorgerufen.
Bei Menschen, die von Ihrem Fuß nur noch wenig spüren und die Belastungsintensität nicht steuern können ist „Compliance“ als Befolgung vorgegebener Entlastungsmaßnahmen ohnehin kein sinnvolles Konzept und ein Vorfußentlastungsschuh nicht hilfreich, sondern eher kontraindiziert. Man spricht in solchen Fällen auch gerne von einem „Vorfußbelastungsschuh“. Daher ist die, von den beiden behandelnden Ärzten angeführte „schlechte Compliance“ keine Begründung dafür, dass die Patienten für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind.
Amputationen vorbeugen – DMP konsequent umsetzen
Die gesetzlichen Krankenkassen müssen seit dem 1. Januar 2002 nach § 137 wf SGB V Disease-Management-Programme für chronisch Kranke anbieten, über die sich teilnehmende Ärzte verpflichten, eine kontinuierliche, strukturierte und qualitätsgesicherte Versorgung vorzuhalten.
Hierzu zählt auch die sachgerechte Koordination der therapeutischen Optionen von sich in der Langzeitbetreuung befindlichen Patienten, die den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen zu entsprechen haben. Für die komplexe Behandlungssituation der DFS-Patienten bedeutet dies konkret, dass der koordinierende Arzt eine unverzügliche Überweisung zu anderen spezialisierten Einrichtungen (= Fußambulanzen) veranlassen muss.
Unterlässt er dies und erleidet der Patient einen auf die schuldhafte Verletzung der verspäteten oder unterlassenen Überweisung beruhenden Schaden, wird damit der sozialversicherungsrechtlich zugesicherte Sorgfaltsmaßstab unterschritten, woraus sich letztlich auch eine im Zivilrecht relevante Haftung gegenüber dem Patienten auf Schadensersatz entwickeln kann.
Denn der behandelnde Arzt schuldet seinem Patienten gemäß § 630 a Absatz 2 BGB eine Behandlung, die dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Forschung zu entsprechen hat. Weicht der Arzt von dieser Soll-Forderung ohne Rücksprache und Einwilligung des Patienten ab, handelt er behandlungsfehlerhaft. Ist dieser Fehler nachweislich ursächlich für den eingetreten Schaden, steht einem Schadensersatzanspruch des geschädigten Patienten nichts mehr im Wege.
Autoren: Prof. Dr. jur. Volker Großkopf, Katholische Hochschule NRW, Köln und Dipl.-Jur. Michael Schanz, Rechtsdepesche, Köln
Der Beitrag ist in der Ausgabe Mai auf S. 13 erschienen.