IT & Kommunikation

Die Zukunft von KIS

04.09.2023 - Seit SAP im Herbst 2022 die Branchenlösung Industry Solution Healthcare (IS-H) ohne Nachfolge abgekündigt hat, herrscht Unruhe in Krankenhäusern in Deutschland, besonders in großen Unikliniken.

Viele von ihnen verwenden das in SAP integrierte Krankenhausinformationssystem (KIS) i.s.h.med, welches auf IS-H beruht. Mit welchem System soll das Patienten- und Abrechnungsmanagement nach dem Auslaufen des Support 2027 (kostenpflichtig bis 2030) erfolgen? Welche Probleme bringt ein Umstieg mit sich? Und – die große Frage dahinter: wie sieht die Zukunft der KIS aus? Wir fragten Dr. Peter Gocke, Chief Digital Officer der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Gocke
Dr. Peter Gocke Foto: Charite

 

M&K:  Sie verwenden aktuell is.h.med in Ihrer Uniklinik. Wie waren Ihre Reaktionen als SAP den Support für IS-H abgekündigt hat? Haben Sie damit gerechnet – oder traf es Sie eher wie Schock?

Dr. Peter Gocke: Von einem Schock würde ich nicht sprechen. Seitens der Charité beobachten wir die Entwicklungen im Markt für IT-Lösungen für das Gesundheitswesen schon seit langem und sehr sorgfältig – insbesondere das Umfeld der für uns sehr wichtigen Systeme, wie es ein Krankenhausinformationssystem selbstverständlich ist. Spätestens seit dem Verkauf der Krankenhaus IT – Sparte von Siemens an Cerner und der danach spürbaren Phase der Unsicherheit haben wir uns mit dem Thema einer potenziell einmal erforderlichen Nachfolgelösung für i.s.h.med beschäftigt.

Sie haben sich also schon im Zuge der Digitalisierungsprojekte ihres Hauses darüber Gedanken gemacht, wie ein zukünftiges KIS aussehen soll. Was sind Ihre Anforderungen?

Gocke: Wenn man sich die heute am Markt verfügbaren und meist schon etwas in die Jahre gekommenen Systeme ansieht, erkennt man immer noch den Ursprung der Entwicklung: zuvorderst die Unterstützung der Abrechnung, sodann die Möglichkeit auch klinische Dokumentationsaufgaben zu erledigen und erst zuletzt Funktionen, um zumindest klinische Teilprozesse digital zu unterstützen. Dieser Ansatz trägt längst nicht mehr: ein zukünftiges KIS muss viel besser die Prozesse und Abläufe der Patientenversorgung digital unterstützen, wo es möglich ist Automatisierungen erlauben und damit sowohl Mitarbeiter wirklich entlasten als auch Patienten direkt mit einbinden.

Im Prinzip erleben wir hier gerade die in anderen Branchen längst stattgefundene „Plattformisierung“ jetzt endlich auch bei IT-Systemen im Gesundheitswesen: weg von heterogenen, mehr oder weniger gut über Schnittstellen miteinander verbundenen siloartigen Systemen ohne adäquate Prozessorientierung zu hochintegrierten, mit dem Fokus auf die Unterstützung der wirklich wertschöpfenden Prozesse entwickelten Systeme mit ausgeprägten Vernetzungsoptionen.

Wie wollen Sie den Umstieg auf ein neues KIS angehen? Was ist zu tun? Und haben Sie überhaupt genügend Ressourcen – finanziell und personell – dafür? Welche Probleme sehen Sie?

Gocke: Der Wechsel eines KIS – egal, ob zu einer neuen Generation des bereits implementierten Systems oder zu einem System eines anderen Anbieters, ist eines der größten Projekte, die sich ein Krankenhaus überhaupt vornehmen kann – vergleichbar mit einem Neubauvorhaben. Dies ist absolut kein „IT-Projekt“ – und folgerichtig wird ein Projekt dieser Relevanz direkt vom Vorstand betrieben, der als einziger sowohl die personellen als auch finanziellen Ressourcen organisieren kann.

Eine vom Vorstand mandatierte und breit angelegte Arbeitsgruppe ist derzeit dabei, eine Markterkundung durchzuführen, um strukturiert einen Überblick über aktuell verfügbare Lösungen und der Funktionstiefen zu gewinnen. Das Ganze erfolgt auf Basis der konkret zu unterstützenden Prozesse in Verwaltung, Krankenversorgung, aber auch Forschung und Lehre.
Selbstverständlich konkurriert ein solches Vorhaben mit anderen laufenden Aktivitäten wie der Umsetzung des Krankenhauszukunftsgesetzes und den Herausforderungen der Implementierung diverser Funktionalitäten im Umfeld der Telematik-Infrastruktur, wie ePA und eRezept. Erschwerend kommen die Nachwirkungen der Pandemie hinzu, mit eher noch zunehmendem Fachkräftemangel und finanziellen Restriktionen – um nur einige der zu bewältigenden Probleme zu nennen.  

Eine solche Migration ist häufig Fluch und Segen zugleich. Unerwartet stehen Sie nun vor einer Aufgabe, die in der Kürze der Zeit möglicherweise die Bündelung aller Kräfte erfordert. Andererseits kann sie auch eine Gelegenheit darstellen, Innovationen früher als angedacht umzusetzen. Welche Prozesse möchten Sie mit einem neuen KIS verbessern, was sollte das System hinsichtlich Interoperabilität können und welche Funktionalitäten bräuchte es sonst noch?
Gocke: Wenn eine KIS-Einführung erfolgreich sein soll, darf man sich nicht wie in der Vergangenheit oft geduldet auf das Bereitstellen von Technologie beschränken. Die Devise muss sein: „IT follows process“: und damit ist nicht die Abarbeitung von Teil-Prozessen in einzelnen Bereichen, sondern vielmehr die digitale Unterstützung einer gesamten, übergreifenden Prozesskette gemeint. Dies erfordert im Vorfeld eine Befassung mit der Prozesslandschaft des Krankenhauses – und neben einer Konsolidierung auch eine Prozessoptimierung, denn die einfache Umsetzung eines bisher analogen Prozesses mit digitalen Werkzeugen stellt keine adäquate Verbesserung dar, und vor allem keine digitale Transformation.

Darüber hinaus steht das deutsche Gesundheitswesen vor einem erheblichen Umbruch, was Anforderungen an die Vernetzung angeht: durch die Integration in die Systeme der Telematikinfrastruktur haben wir erstmals eine Möglichkeit, Sektorengrenzen zu überwinden, und sogar Patienten direkt mit einzubeziehen. Dies gelingt nur auf Basis von Standards und erfordert wesentlich mehr Interoperabilität – wozu die Vorgaben von ISiK erfreulicherweise beitragen.

Halten Sie es für realistisch, dass Ihr KIS bis Ende 2027 durch ein neues System ersetzt werden kann? Welche Risiken sehen Sie abschließend, die den Erfolg einer Migration verhindern könnten? Und welche positiven Seiten würde eine erfolgreiche Migration für Ihr Haus mit sich bringen? Können Sie sich heute schon Vorteile in Hinblick auf interne und externe Abläufe vorstellen?

Gocke: Zwar ist das Ende des regulären Supports für den i.s.h. – Teil unseres KIS in der Tat für Ende 2027 angekündigt, aber für zumindest drei weitere Jahre wird ein erweiterter Support erhältlich sein – und das ist auch gut so, denn ein Wechsel auf eine neue KIS-Generation oder ein gänzlich neues KIS wird Zeit kosten.

Wenn man diese Zäsur aber als Chance begreift (und das tun wir), so ergeben sich auch eine ganze Reihe positiver Optionen. Allein die Überprüfung der Prozesse erlaubt das Aufräumen von nicht mehr benötigten Altlasten oder zumindest eine stärker konsolidierte und vor allem automatisierte Prozessunterstützung. Darüber hinaus bringen moderne KIS ganz andere Integrationsoptionen mit sich, insbesondere da wo auf Basis von Standard-Schnittstellen und interoperablen Datenformaten die tiefe Integration von KI-Unterstützung und hochwertigen Algorithmen möglich ist. Auch die direkte Integration mit telemedizinischen Services sowohl in Form von remote monitoring, aber auch durch Videosprechstundenformate erleichtert den Zugang zu medizinischen Angeboten und macht diese effizienter.

Unverzichtbar wird die direkte Interaktion unmittelbar aus dem KIS mit der ePA der Patienten sein, sowie die niedrigschwellige Kommunikation über Systeme wie den TI-Messenger.
Letztlich ist Digitalisierung kein Selbstzweck, sondern soll eine bessere Medizin ermöglichen: durch die gemeinsame, konsequente Nutzung strukturierter und qualitativ hochwertiger Daten in Echtzeit, und eine Automatisierung wo immer das möglich ist. All dies trägt zu einer besser erreichbaren, medizinisch hochwertigen und patientensicheren Versorgung bei.

Autor: Arno Laxy, München

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Das Interview ist in der Ausgabe M&K September 2023 auf S. 12 erschienen.

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