Gesundheitspolitik

Im Gesundheitslabor der Zukunft

12.10.2021 - Wie kann Gesundheitsvorsorge durch digitale Technologien erfolgen?

Seit 2020 leitet Rea Lehner das Forschungsprogramm „Gesundheitstechnologien der Zukunft“ am Singapore-ETH Centre. Gemeinsam mit ihrem Team erarbeitet die ETH-Forscherin die Grundlagen, wie sich die Gesundheitsvorsorge durch digitale Technologien verändern lässt.
Die Bevölkerung in Industriestaaten wird immer älter. Dies stellt die Gesundheitssysteme vor große Herausforderungen: Die Nachfrage nach Dienstleistungen steigt und kann immer weniger im Rahmen der bestehenden Infrastruktur und Ressourcen gedeckt werden.

In vielen europäischen Ländern haben Spitäler und Kliniken bereits heute Mühe, geeignetes Personal zu finden. Die Belastung für Ärzte und Pfleger nimmt zu. Die Wartelisten für Rehabilitationszentren werden immer länger und die Gesundheitskosten steigen. Was also tun, damit die Gesundheitssysteme auch in Zukunft noch funktionieren?

„Wir werden nicht umhinkommen, Patienten vermehrt auch in ihrem Zuhause zu untersuchen, zu behandeln und zu betreuen“, erklärt Rea Lehner. Die 32-jährige Schweizerin ist seit März 2020 als Programmmanagerin und Forscherin am Singapore-ETH Centre tätig. Sie ist dort gemeinsam mit ETH-Professorin Nicole Wenderoth für den Aufbau des neuen Forschungsprogramms „Gesundheitstechnologien der Zukunft“ verantwortlich. Ihr Ziel: die wissenschaftlichen Grundlagen für die dringend notwendige Transformation des Gesundheitswesens durch mobile, digitale Technologien zu erarbeiten.

Stadtstaat Singapur als Vorreiter

In Sachen Gesundheitsversorgung ist Singapur ein Laboratorium für die Zukunft. „Der Digitalisierungsgrad ist sehr hoch und für viele Dienstleistungen kommen bereits heute Apps zum Einsatz. Daher können wir hier Projekte umsetzen, die anderswo noch nicht möglich wären“, sagt Lehner über die Gesundheitsversorgung im Stadtstaat. So ist aktuell zum Beispiel eine Studie mit 3.000 Singapuri im Gang, die untersucht, wie sich Stürze und Knochenbrüche frühzeitig erkennen und verhindern lassen. Mittels mobiler Sensoren und Algorithmen soll bestimmt werden, ob eine Person besonders sturzgefährdet ist und ein hohes Risiko aufweist, sich dabei einen Bruch zuzufügen. Basierend auf diesen Erkenntnissen, werden dann maßgeschneiderte kognitive und physische Übungen zur Prävention entwickelt.

„Ein Projekt dieser Größenordnung ist nur durch eine sehr enge Kooperation mit den Gesundheitsbehörden und lokalen Partnern möglich“, erklärt die ETH-Forscherin. Singapur bietet dafür sehr gute Rahmenbedingungen. Ob Kliniken, Universitäten oder Behörden, die Akteure im Gesundheitswesen tauschen sich intensiv und kontinuierlich aus. „Es herrscht hier eine sehr kooperative Kultur und auf Behördenseite haben wir mit dem Office for Healthcare Transformation einen gut vernetzten Partner, der immer wieder Türen für uns öffnet“, sagt Lehner. Hinzu kommt, dass auch Singapuri älteren Semesters eher technologieaffin sind und wenig Berührungsängste haben, digitale mobile Anwendungen zu verwenden.

Bewegung im Gehirn gesteuert

Als begeisterte Volleyballerin fragt sich Rea Lehner bereits in ihrer Jugend, wie Bewegungen vom Gehirn gesteuert werden. Um sich eingehender damit beschäftigen zu können, entscheidet sie sich für ein Doppelstudium in Sport und Biologie an der Universität Bern. Für ihren Master wechselt die St. Gallerin an die ETH Zürich, wo sie Bewegungswissenschaften studiert und sich immer mehr mit neurowissenschaftlichen Themen beschäftigt. Nach einem Forschungsaufenthalt am Trinity College in Dublin beginnt Lehner im April 2014 schließlich ihr Doktorat an Nicole Wenderoths Lehrstuhl für neuronale Bewegungskontrolle. In ihrer Dissertation untersucht Lehner den Einfluss von Belohnungen auf menschliches Verhalten. Sie zeigt u. a., dass Belohnung in Form von Geld die motorische Verlangsamung einer Bewegung wie z. B. das Tippen des Zeige- und Mittelfingers signifikant reduziert.

Relevant ist dies z. B. für rehabilitierende Schlaganfallpatienten, die in ihrem Training sehr repetitive Bewegungen ausführen müssen und dabei schnell ermüden. „Durch die Belohnung werden die Patienten ermutigt, die Übungen länger zu machen, was sich wiederum positiv auf ihre Rehabilitation auswirkt“, erläutert Lehner. Erklären lässt sich dieser Effekt durch eine veränderte neuronale Aktivität im motorischen System des Gehirns, welche durch die Belohnung ausgelöst wird.

Cybathlon als prägende Erfahrung

In ihrer Doktorarbeit greift Lehner immer wieder auf neurologische Untersuchungsmethoden wie die Magnetresonanztomografie oder die Elektroenzephalografie (EEG) zurück. Letztere wird sie auch bei einem Projekt einsetzen, das sie stark prägt und dem sie bis heute verbunden ist: dem Cybathlon. Dort treten Menschen mit körperlicher Behinderung unter Verwendung moderner Technologien in Wettkämpfen gegeneinander an. Lehners Team arbeitet seit 2018 mit Samuel Kunz zusammen. Kunz ist querschnittsgelähmt und an einen Rollstuhl gebunden.

„Unser Ziel war, dass Samuel in einem Computerspiel ein Auto nur mit seinen Gedanken steuert. Dafür haben wir die elektrische Aktivität seines Gehirns gemessen, darin Muster gesucht und diese in bestimmte Kommandos übersetzt“, erklärt Lehner. Obgleich sie und ihr Team mit dieser Methode beachtliche Erfolge erzielten, ist das Endergebnis letztlich ernüchternd: „Eine nicht-invasive Methode wie die EEG liefert einfach zu schwache und ungenaue Signale. Um tatsächlich einen gelähmten Menschen wie Samuel mit einem Rollstuhl, den er alleine mit seinen Gedanken steuert, auf die Straße schicken zu können, ist noch viel Technologieentwicklung notwendig“, sagt Lehner.

Nichtsdestotrotz überwiegt bei Lehner die Begeisterung, wenn sie an den Cybathlon 2020 zurückdenkt: „Wir haben neben dem technischen Wissen zu Gehirn-Computer-Schnittstellen sehr viel darüber gelernt, wie man Endnutzer von Anfang an in die Technologieentwicklung einbindet. Dies ist für meine Arbeit hier in Singapur entscheidend.“

Von der Forscherin zur Managerin

Am Singapore-ETH Centre forscht Lehner vor allem zu maßgeschneiderten Rehabilitationsverfahren für Schlaganfallpatienten. Diese Tätigkeit macht aber nur einen kleinen Teil ihrer Aufgaben aus, denn als Programmanagerin ist Lehner nicht mehr nur für ihre eigene Forschung verantwortlich: „Aktuell komme ich selbst sehr wenig zum Forschen. Die Aufbauarbeit unseres Forschungsprogramms nimmt den größten Teil meiner Zeit in Anspruch.“

Dazu gehört neben der sich während der Corona-Pandemie als sehr schwierig erweisenden Rekrutierung neuer Mitarbeitenden auch die Führung eines internationalen Forschungsteams. Aktuell arbeiten 23 Angestellte im Rahmen des Programms „Gesundheitstechnologien der Zukunft“. Zusätzlich sind 12 ETH-Forschende und 22 lokale Partner beteiligt. „Unser Team setzt sich aus Ärztinnen, Therapeutinnen, Ingenieurinnen, Psychologen, Softwareentwickler, Biologinnen und Sozialwissenschaftlern zusammen. Trotz unterschiedlicher Perspektiven verfolgen wir alle das gleiche Ziel: neue Gesundheitstechnologien zu entwickeln und damit möglichst vielen Menschen zu helfen“, sagt Lehner nicht ohne Stolz.

Die größte Herausforderung für Rea Lehner liegt aber aktuell nicht im Bereich ihrer eigenen Forschung oder in der Personalführung, sondern im Umgang mit Gesundheitsdaten: Wie werden sensible Daten aus den Projekten sicher gespeichert und verarbeitet? Wie kann man sie den richtigen Personen zur Verfügung stellen, ohne dabei gleichzeitig den Datenschutz und Privatsphäre der Patienten zu kompromittieren. Es sind genau solche Fragen, die im Rahmen der voranschreitenden Digitalisierung westlicher Gesundheitssysteme unweigerlich auf uns zukommen. Rea Lehner wird darauf sehr gut vorbereitet sein.


Autor:
Christoph Elhardt
ETH Zürich, Schweiz
https://ethz.ch/de

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