Medizin & Technik

Patientengerechte Implantate durch Simulation an virtuellen Menschmodellen

05.11.2023 - Immer jüngere Patienten benötigen einen künstlichen Hüft- oder Kniegelenkersatz. Da sie körperlich aktiver sind als ältere Menschen, steigt das Risiko für einen erneuten Eingriff.

Dieses Problem adressieren Forschende am Fraunhofer IPA mit einer neuen Software-Plattform für virtuelle klinische In-Silico-Studien. Mit-hilfe computergestützter Funktionsprüfungen und neuartiger Menschmodelle können Implantate und Orthesen personalisiert hergestellt werden – spätere Komplikationen lassen sich so für Betroffene minimieren. Die Workflow-basierte Simulationsumgebung für die virtuelle Produktentwicklung und Forschung in der Orthopädie wird vom 13. bis 16. November 2023 auf der MEDICA präsentiert.

Aktuelle Studien zeigen, dass die Zahl jüngerer Menschen mit künstlichen Gelenken wächst. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sie reichen von rheumatischen Erkrankungen über vermehrtes Übergewicht, angeborene Skelettschädigungen und Fehlstellungen bis hin zu Schädigungen durch Tumore. Bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung und einem hohen Wunsch nach Mobilität sind die Herausforderungen an endo- aber auch an exoprothetische Lösungen groß. Mit einer neuartigen In Silico Human Modelling-Plattform für die Forschung und Entwicklung von Medizinprodukten in der Orthopädie will die Forschergruppe »In Silico Orthopedics« am Fraunhofer IPA in Stuttgart diesen Herausforderungen begegnen. Indem zahlreiche manuelle Fertigungsschritte digitalisiert und in einen virtuellen Prozess überführt werden, lassen sich mit der Simulationssoftware alle Arten von Gelenkersatz, Prothesen und Orthesen nachhaltig, schnell, passgenau und unter der Einhaltung hoher Qualitätsstandards auf den Patienten zugeschnitten herstellen. Dabei unterstützen unter anderem weltweit einzigartige, individuelle muskuloskelettale Menschmodelle für die Orthopädie, die aus medizinischen Bildgebungsdaten wie MRT und Ultraschall generiert werden. Das Muskel-Sehnensystem mit allen Details wird modelliert. Es entsteht quasi ein digitaler Zwilling, ein Abbild des Patienten. Mithilfe dieser 3D-Finite-Elemente-Modelle werden die biomechanischen Eigenschaften der Muskeln, Sehnen und Bindegewebestrukturen mit realistischen physiologisch dynamischen Bewegungen simuliert – sowohl vor als auch nach dem Einsatz von Implantaten.

Plattform unterstützt Chirurgen bei der Planung von OPs

Auch die Plastische Chirurgie profitiert von der neuen Lösung: Nach neuromuskulären Erkrankungen wie Zerebralparesen leiden Patientinnen und Patienten oftmals unter muskulären Dysfunktionen des Sprunggelenks. Sind diese konservativ nicht mehr behandelbar, ist für die Sprunggelenkskorrektur ein Muskel- oder Sehnentransfer etwa von einem Zeh zu einem anderen oder eine Sehnenverlängerung erforderlich, um das sensitive muskuläre Gleichgewicht neu zu justieren. Die Auswirkungen dieser Intervention kann der Chirurg vor dem Eingriff mit der In-Silico Human Modelling-Plattform testen, indem er verschiedene Parameter wie Geometrie, Richtung, Positionierung, Belastung, Länge und vieles mehr variiert. Auf diese Weise kann er beispielsweise eine Überkorrektur vermeiden. »Unsere Software-Plattform unterstützt Chirurgen bei der Planung von Eingriffen. Durch die realistischen Simulationen erhalten sie präzise Hinweise, wie sich einzelne Maßnahmen auswirken«, erläutert Dr. Okan Avci, Leiter des Virtual Orthopedic Lab am Fraunhofer IPA. »Auf diese Weise lässt sich das Wissen erfahrener Ärzte konservieren. Weniger geübte Chirurgen können mit der Software lernen. Es ist auch ein Weg, Standards zu verbessern, da wir ein nachvollziehbares System etablieren.«

500 Patienten anstelle von 50 durch virtuelle klinische Studien

Ein weiteres Anwendungsfeld der Software-Plattform sind virtuelle klinische Studien. Patientenspezifische Funktions- und Wirksamkeitsanalysen von Implantaten können derzeit in klinischen Studien nicht oder nur selten ermittelt werden, da sie zu teuer und zu aufwändig sind. Denn die Suche nach geeigneten Patientengruppen, sogenannten Kohorten, gestaltet sich oftmals als schwierig. Mehr als 50 Probanden finden sich häufig nicht. Laut einer neuen Verordnung für Medizinprodukte muss die Wirksamkeit von Prothesen jedoch künftig nachgewiesen werden. Die EU-Kommission hat die Medizinprodukteverordnung (MDR, Medical Device Regulation) bereits im Mai 2021 entsprechend verschärft.

Der Einsatz von Knie- und Hüftendoprothesen hat massiv zugenommen. Allerdings ist auch die Rate für eine erste Revision in Deutschland bei unter 65-jährigen am höchsten, sie liegt bei Männern bei 100 Prozent, bei Frauen bei 41 Prozent. Bei unter 55-jährigen Patienten ist die Ausfallwahrscheinlichkeit des Implantats nach zwei Jahren sogar doppelt so hoch wie bei älteren. »Implantate können heute nur an Normprüfmaschinen maschinell geprüft werden, und klinische Studien mit wenigen Probanden reichen nicht aus für einen Evidenznachweis. Mit unseren Menschmodellen und den Simulationen kann man viele virtuelle Patientenkohorten erzeugen und unterschiedlichste Variationen an Implantaten berechnen. Unzählige Faktoren wie die Größe der Prothese, die Muskelkraft und vieles mehr lassen sich berücksichtigen«, sagt der Ingenieur. »Das wird die Evidenz vorantreiben, da man die Effekte analysieren kann.« Medizintechnische Unternehmen und Kliniken können die gewünschten Menschmodelle künftig für ihre weitere Forschung und Entwicklung lizensieren. Aktuell arbeiten der Forscher und sein Team mit einem Implantathersteller an einem Menschmodell, um an diesem ein Knieersatzimplantat zu simulieren und zu analysieren, das bei Skeletttumoren Einsatz findet.

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