Trotz Übergewicht niedrigeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
22.10.2025 - Bestimmte genetische Mutationen eines appetitregulierenden Rezeptors im Gehirn führen zwar zu Adipositas, senken bei Betroffenen aber gleichzeitig die Cholesterinwerte sowie das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Das haben Forschende der Ulmer Universitätsmedizin in einer internationalen Studie herausgefunden und damit erstmals nachgewiesen, dass Signalwege im Gehirn direkt in den Fettstoffwechsel eingreifen. Dies könnte neue Perspektiven für die Prävention von Herzerkrankungen eröffnen. Die Ergebnisse der Studie wurden im hochrenommierten Fachjournal „Nature Medicine“ veröffentlicht.
Es klingt paradox: Eine genetische Mutation, die zu starker Adipositas führt, reduziert gleichzeitig das Risiko von Herzkrankheiten und senkt Cholesterinwerte. Doch genau das konnten Ulmer Forschende in Zusammenarbeit mit den Universitäten Cambridge und Genf durch eine Analyse von Gesundheitsdaten tausender Menschen mit Adipositas zeigen. Das ist deshalb erstaunlich, weil starkes Übergewicht eigentlich ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie Herzinfarkt und Schlaganfall – die weltweit häufigsten Todesursachen – ist. Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte, Insulinresistenz und Entzündungen schädigen dabei Herz und Blutgefäße und verringern die Lebenserwartung der Betroffenen.
Im Mittelpunkt der jetzt in „Nature Medicine“ erschienenen Studie steht der Versuch, die grundlegenden Mechanismen hinter der Regulation des Körpergewichts zu verstehen – und die Frage, weshalb manche Menschen trotz Fettleibigkeit keine Herzkrankheiten entwickeln. Um sie zu beantworten, untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R), der im Gehirn den Appetit und damit das Körpergewicht reguliert. Funktioniert der MC4R aufgrund einer seltenen Mutation nicht richtig, ist das eine Ursache für genetisch bedingte Adipositas. Wie die ausgewerteten Daten zeigen, sind davon etwa vier Prozent der an Adipositas erkrankten Kinder betroffen.
Die Forschenden analysierten genetische Sequenzen von 7719 Menschen mit extremer frühkindlicher Adipositas. Bei 316 Personen und 461 ihrer Familienmitglieder wiesen sie Veränderungen in MC4R nach. Der Vergleich mit Daten von mehr als 330.000 Kontrollpersonen ohne solche Veränderungen zeigte: Trotz eines ähnlich hohen Body-Mass-Index hatten die Betroffenen deutlich bessere Blutfettwerte und einen niedrigeren Blutdruck. Insbesondere bei Erwachsenen mit MC4R-Veränderungen waren die Werte für Gesamtcholesterin, das „schlechte“ Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin und Triglyzeride signifikant niedriger. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten auch, wie sich der Stoffwechsel von Personen mit MC4R-Defekt nach einer fettreichen Mahlzeit verhält. Sie fanden Hinweise darauf, dass bei Betroffenen im Vergleich zur Kontrollgruppe mehr Fett im Fettgewebe gespeichert wird, was die niedrigeren Fettstoffwechsel-Werte im Blut erklären könnte.
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Melanocortin-4-Rezeptoren im Gehirn eine Schlüsselrolle bei der Regulation des Fettstoffwechsels spielen und zugleich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen beeinflussen können“, erklärt Erstautorin Dr. Stefanie Zorn von der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Ulm. Sie wertete die Daten während eines Forschungsaufenthalts in Cambridge am Institute of Metabolic Science, Metabolic Research Laboratories aus. „Adipositas ist eine komplexe, chronische Erkrankung, die weit über das äußere Erscheinungsbild hinausgeht. Nur durch ein besseres Verständnis der genetischen und zugrundeliegenden biologischen Mechanismen können wir individuelle Therapien entwickeln und Betroffenen effektiv helfen“, so Professor Martin Wabitsch, Sektionsleiter der Pädiatrischen Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Ulm und stellvertretender Standortdirektor des Deutschen Zentrums für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ) Ulm.
Die Entdeckungen des internationalen Teams könnten weitreichende Folgen für die Entwicklung neuer Vorsorgeansätze bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben. Die in der Arbeit gewonnen Erkenntnisse können einerseits in der Prävention Anwendung finden, indem Personen mit Adipositas und niedrigen Cholesterinwerten gezielt genetische Tests angeboten werden. Andererseits könnten die Ergebnisse auch für die Arzneimittelforschung genutzt werden, zum Beispiel um im Rahmen der personalisierten Medizin selektive MC4R- Agonisten zu entwickeln, die ausschließlich den Blutdruck regulieren, jedoch keinen Einfluss auf Hunger und Sättigung haben.
„Die Untersuchung der weltweit größten Kohorte von Menschen mit MC4R-Defekt liefert erstmals wertvolle Einblicke in die komplexe Verbindung zwischen Körpergewicht, Fettstoffwechsel und kardiovaskulärer Gesundheit“, so Professor Wabitsch, der derzeit auch Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum ist. Er betont: „Internationale Kooperationen wie diese sind insbesondere bei seltenen Erkrankungen entscheidend, um die begrenzte Anzahl von Patientendaten zu bündeln und neue, umfassende Erkenntnisse zu gewinnen – und damit neue Perspektiven für die Diagnostik und Therapie zu eröffnen.“
Publikationshinweis: Zorn, S., Bounds, R., Williamson, A. et al. Obesity due to MC4R deficiency is associated with reduced cholesterol, triglycerides and cardiovascular disease risk. Nat Med (2025). DOI: https://doi.org/10.1038/s41591-025-03976-1