Bauen, Einrichten & Versorgen

Wie uns Räume verändern

Eine Reise ins Innere unserer täglich genutzten Gebäude

21.12.2021 - „Drinnen. Wie uns Räume verändern“ ist der Titel eines Buches der US-amerikanischen Wissenschaftsjournalistin Emily Anthes, das in diesem Herbst auf Deutsch erscheint.

Darin nimmt sie den Leser mit auf eine Reise dorthin, wo wie uns eigentlich bereits alltäglich aufhalten: Sie erkundet, die tiefgreifenden Auswirkungen die sie auf uns haben. Räume in Krankenhäusern sind ein Schwerpunkt ihrer Überlegungen. Der nachfolgende Text ist der Einleitung des Buches entnommen.

Der moderne Mensch ist im Großen und Ganzen eine Indoor-Spezies. Nordamerikaner und Europäer verbringen etwa 90 Prozent ihrer Zeit drinnen, und in manchen großen Städten gibt es mehr Innen- als Außenraum. Beispielsweise hat Manhattan, eine Insel, nur knapp 60 Quadratkilometer Land, verfügt aber über dreimal so viel Innenraumbodenfläche. Und im Gegensatz zu Manhattan selbst wächst diese ständig. Die Vereinten Nationen schätzen, dass sich innerhalb der nächsten vierzig Jahre die Quadratmeterzahl weltweit in etwa verdoppeln wird. „Das ist so viel, als würde von jetzt bis 2060 jährlich die gegenwärtige Grundfläche von Japan hinzugebaut“, schrieb die Organisation 2017.

Zu meiner Freude betrachten mehr und mehr Wissenschaftler die Welt unserer Innenräume als untersuchenswert. Forscherinnen und Forscher ganz unterschiedlicher Disziplinen nehmen sie in den Fokus, skizzieren ihre Umrisse und entdecken ihre Geheimnisse. Mikrobiologen erfassen die Bakterien, die in unseren Gebäuden gedeihen, und Chemiker spüren die Gase auf, die durch unser Zuhause wehen. Neurowissenschaftler lernen, wie unsere Gehirne auf unterschiedliche Arten von Gebäuden reagieren, und Ernährungswissenschaftler untersuchen, wie die Bauweise einer Kantine die Wahl unserer Nahrungsmittel steuert. Anthropologen beobachten, wie die Gestaltung von Büros Produktivität, Engagement und Jobzufriedenheit von Angestellten auf der ganzen Welt beeinflusst. Psychologen testen den Zusammenhang zwischen Fenstern und psychischer Gesundheit, Licht und Kreativität, Möblierung und sozialer Interaktion.

Ihre Ergebnisse legen nahe, dass Innenräume unser Leben auf weitreichende und manchmal überraschende Weise prägen. Um nur ein paar zu nennen: Bei Frauen, die in einem Krankenhaus auf einer weitläufigen Station gebären, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kaiserschnitt durchgeführt wird, höher als bei jenen, die die Geburt in kompakteren Räumen erleben. Warmes, gedämpftes Licht beruhigt zappelige und aggressive Kinder. Frische Luft fördert die kognitiven Funktionen von Büroarbeitern.
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Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die richtigen Herausforderungen Körper und Geist stärken können. (Fängt man an, Gewichte zu stemmen, wachsen die Muskeln. Fängt man an, eine neue Sprache zu erlernen, bilden sich im Gehirn neue Verbindungen.) Es gibt keinen Grund, weshalb nicht unser Zuhause uns diese Herausforderungen bieten sollte. Wissenschaftlern ist seit Jahrzehnten bekannt, dass es für die Gesundheit von Labortieren besser ist, sie in stimulierenden Umgebungen leben zu lassen – zusammen mit anderen Tieren in Käfigen mit Tunneln, Spielzeug, Labyrinthen, Leitern und Laufrädern –, als sie in spartanische Einzelkäfige zu sperren. Eine bereichernde Umgebung dieser Art kann das Immunsystem der Tiere anregen, das Wachstum von Tumoren bremsen, Neuronen vor Verletzung schützen und den geistigen Verfall hinauszögern, der mit dem Altern einhergeht.  

Es gibt äußerst überzeugende Belege dafür, dass stimulierende Umgebungen auch für Menschen gut sind. Beispielsweise sind in Städten, wie Forscher herausgefunden haben, die Demenzraten niedriger als auf dem Land. Es ist schwer zu sagen, warum genau, aber laut einer Theorie ist das Leben in der Stadt einfach anregender und komplexer und schützt auf diese Weise das Hirn. „Ich glaube, dass wir in Räumen, die uns auf vielfältige Art und Weise beanspruchen, gesünder altern“, sagte mir Laura Malinin, eine Kognitionswissenschaftlerin und Architektin von der Colorado State University. In ihrer eigenen Forschung hat Malinin einige vorläufige Daten gesammelt, die nahelegen, dass visuell komplexe Räume die kognitiven Funktionen von Senioren stärken können.  
 
In mancher Hinsicht widerspricht diese Auffassung der üblichen Praxis, Umgebungen für Senioren weniger komplex zu gestalten. „Viele Richtlinien zur Gestaltung für das Alter fordern neutrale Farben, eine einfache Einrichtung, einfache, solide Fußböden, beigefarbene Wände und so etwas“, so Malinin. „Wir entwerfen Dinge, die alle auf einer Ebene sind, visuell schlicht, in denen man sich leicht zurechtfindet. Und damit schaffen wir eine verarmte statt einer anregenden Umgebung.“
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Es ist an der Zeit, den Stellenwert der Welt der Räume anzuerkennen. Zu lange haben wir diese vernachlässigt – sie sind uns so vertraut, dass wir ihren Einfluss und ihre Komplexität übersehen haben. Das ändert sich endlich. Und je mehr wir über die Welten in unseren Gebäuden erfahren, desto mehr Möglichkeiten haben wir, sie umzugestalten. Mithilfe von durchdachtem, sorgfältigem Design können wir fast jeden Aspekt unseres Lebens verbessern. Wir sind Produkte unserer Umgebungen, aber wir müssen nicht ihre Opfer sein.

Schon kleine Veränderungen in der Bauweise können wesentliche Auswirkungen haben. Ein Beispiel dafür ist die Neugeborenenintensivstation des Women and Infants Hospital of Rhode Island. Traditionell wurden Frühgeborene dort auf großen offenen Stationen versorgt. Diese waren chaotisch, überfüllt und laut, überall piepten Apparate, und ständig wurde geredet. Stets war ein Dutzend Babys, viele davon in Brutkästen, an den Wänden aufgereiht, und es gab wenig Platz für die Eltern, die Zeit mit ihrem Nachwuchs verbringen wollten.

2009 eröffnete das Krankenhaus eine neue Station, mit der das System der offenen Abteile abgeschafft wurde. Stattdessen wurde jedem Frühchen ein großzügiges Einfamilienzimmer mit Schlafsofa zugeteilt, wo die Eltern übernachten konnten. Diese eine Veränderung – vom offenen Gemeinschaftsraum hin zu privaten Zimmern – sorgte für einen gewaltigen Unterschied in der Entwicklung der Babys. Frühgeborene, die die ersten Lebenswochen in den neuen Räumen verbracht hatten, nahmen schneller zu und wogen bei ihrer Entlassung mehr als jene, die in den offenen Hallen untergebracht wurden. Sie entwickelten außerdem seltener eine Sepsis, benötigten weniger medizinische Behandlungen und zeigten geringere Stress- und Schmerzsymptome.

Architektur ist nicht die Lösung all unserer Probleme. Die Wirkung von gestalterischen Eingriffen ist oft subtil und komplex, und Studien in der baulichen Umwelt lassen sich oft nur mühsam durchführen oder interpretieren. Darüber hinaus verlangen die Herausforderungen, mit denen sich die Experten in diesem Buch auseinandersetzen – vom Verhüten chronischer Erkrankungen bis hin zur humaneren Gestaltung von Justizvollzugsanstalten –, mehr als ein paar Anpassungen der Infrastruktur.
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Das ist es, wofür gute Gestaltung da ist: Sie eröffnet Möglichkeiten. Sie gibt uns einen Schub in die richtige Richtung, unterstützt kulturellen und organisatorischen Wandel und erlaubt uns, unsere Werte auszudrücken. Gute Architektur kann uns helfen, ein gesünderes, zufriedeneres, produktiveres Leben zu führen, gerechtere, humanere Gesellschaften aufzubauen und unsere Überlebenschancen in einer risikoreichen Welt zu verbessern.

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