Bauen, Einrichten & Versorgen

Von den Alten lernen

Erweiterung des Begriffs der Barrierefreiheit

21.12.2021 - Auf Einladung der Bayerischen Architektenkammer wurde von Christoph Metzger, Open Mainded Projektentwicklung, vorliegender Beitrag zum Thema der Barrierefreiheit gehalten, den unser Autor nun in deutlich überarbeiteter Fassung für medAmbiente vorlegt.

Das Thema Lebensqualität und Teilhabe am öffentlichen Leben ohne Barrieren entstand nach lebhaften Diskussionen, deren Teilnehmer sich in der Summe für einen erweiterten Begriff der Barrierefreiheit aussprachen.

I. Was zeichnet Städte aus, die als Weltkulturerbe zum Inbegriff von Lebensqualität werden konnten? Als einer der schönsten Orte in Europa gilt der Piazza de Campo in Siena, dessen Gestaltung lange vor der Einführung von DIN-Regularien entstand. Hier wurden ideale Voraussetzung zur Sicherung von Lebensqualität realisiert, die richtungsweisend sein könnten.  Details lassen sich konkret benennen, die klassische Debatten der Architektur hinter sich lassen. Grund genug für Stadtplaner und Neurowissenschaftler, genauer im historischen Städtebau nach Angeboten für zukunftsfähige Lösungen zu suchen. Insbesondere dann, wenn es um praktische Lösungen in der Gestaltung von Rutschhemmung und Rutschsicherheit nach DIN 51097 und DIN 51130 geht.

II. Als leicht abschüssige Form wurde die Piazza de Campo in Form eines angenäherten Halbrunds ausgestaltet, dessen Verlauf verschiedene Funktionen erfüllt. Nicht nur das Abfließen des Regenwassers wird damit gelenkt, sondern es zeigen sich neben der guten Akustik weitere Qualitäten. Bedeutend ist die gute Rutschfestigkeit, die insbesondere bei den jährlichen Pferderennen, die seit dem Mittelalter unter den Bezirken der Stadt ausgetragen werden, zum Tragen kommt. Pferde drohen im Lauf zu stürzen, wenn der Halt auf glattem Untergrund fehlt. Der hochliegende Schwerpunkt ihrer Körper macht sie besonders anfällig, wenn unerwartete Richtungswechsel der Tiere erfolgen. Glatte Oberflächen werden für sie zur Gefahr, wenn der Bodenbelag die Gewichte ihrer Hufe nicht federnd abdämpfen kann. Die kreisrunde Bahn, die zudem unregelmäßig geneigt ist, nähert sich fast schon der Versuchsanordnung an, die zur Ermittlung von Rutschklassen angewendet wird. Oberflächen werden hier nach ihrer Güte beurteilt und stehen im Kontext der Frage: In welchem Winkel der Mensch noch sicher stehen kann? Je größer der Neigungswinkel, desto besser ist die Klasse der Rutschsicherheit, die von R 9 (entspricht einem Neigungswinkel von 3°-10°) bis hin zu R 13 (entspricht einem Neigungswinkel von über 35 °) reicht.

III. Oberflächen und Neigungswinkel sind die Faktoren, die in der Summe den Grad der Rutschsicherheit bestimmen. Die feine, offenporige Oberfläche des wechselnden Pflasters bietet zahlreiche Haltepunkte, die eine höhere Geschwindigkeit erlauben als grobe Pflastersteine. Auch nimmt die leichte Wölbung des Campos die Fliehkräfte, der im Galopp eilenden Tiere auf. Strahlenförmig zulaufende Sektoren des Bodenbelags ermöglichen den Zuschauern eine exakte Einschätzung des Rennens. Sonnenstände spiegeln sich in Schattenbildern. Wie in Theatern und Arenen des Altertums verstärkt die gewölbte Form der flachen Kuppel das sensorische Erleben von Bewegung und akustischen Ereignissen. Daher erinnert die Piazza del Campo in seiner Form an ein Theater, was auch deshalb kaum verwundert, weil dort bis ins 14. Jahrhundert hinein ein antikes Theater stand.

IV. Typisch für die Region ist der gelblich bis ins leicht rötlich-bräunlich gehende Backstein, der die Böden der Region bestimmt und dessen unverwechselbare Farbe als Erdfarbe von Siena, als Terra di Siena zum Symbol des warmen Farbtons macht, der die Energie der Sonne als materialgewordener Zeuge zu speichern scheint. Rutschhemmung und Trittsicherheit, thermische und akustische Qualitäten prägen den zentralen Ort zum multisensorisch erlebbaren Raum. Zudem erfüllt der Platz Forderungen nach thermal aktiven Oberflächen im Bereich des Wohnens für ältere Menschen.

V. Weiter wurde der Platz zum Sinnbild kommunikativer Qualitäten, dessen gemeinschaftsbildende Kraft er auch bei den alljährlichen Wettkämpfen zeigt. Während der Pferderennen im Sommer versammeln sich Teile der siebzehn Gemeinden, die sich innerhalb der Stadtmauer als Verwaltungseinheiten in Stadtvierteln entwickelt haben; und sie messen sich im Wettkampf ihrer Pferde. Hier zeigen sich erfolgreiche Formen städtischen Zusammenlebens, deren Gemeinschaft an großfamiliäre Strukturen erinnern. Die Ausstrahlung des Platzes, auf dem Silvesterfeuer und andere Feste stattfinden, prägt sich im Bewusstsein der Einwohner als Bild der Gemeinschaft aus.

VI. Vor dem Hintergrund vielfältiger Angebote des Piazza del Campo können Hinweise aus der baulichen Beschaffenheit und dem Nutzen abgeleitet werden, die sich direkt auf die Bodengestaltung von Siena beziehen und so zum idealtypischen Beispiel eines multifunktionalen Platzes werden:  1. stimuliert die negative Kuppel des Piazzo del Campo Formen der Bewegung, da sie den Gang über den Platz zunächst abschüssig, dann ansteigend als Stimulation motiviert. 2. Der wechselnd verlegte Stein bildet übersichtliche visuelle Muster und Zonierungen aus, die Orientierung bieten. 3. Im Wechsel der Jahreszeiten spiegelt der Tagesverlauf sich in abstrakter Form einer Sonnenuhr. 4. Regionales Material in Erdfarben und deren Verarbeitung sind angelegt als Speicher, um die Wärme auch im Spätsommer und Herbst noch lange zu halten. 5. Von den Außenlinien in das Zentrum erschließt sich der Ort als schützende Einheit, die visuell gut erfasst werden kann. 6. geben die Oberflächen des Platzes Halt und erfüllen höchste Ansprüche an das taktile Erleben. 7. wird der großzügige Platz zur sicheren Zone für ältere Menschen. 8. können Geräusche täglichen Lebens leicht identifiziert werden. Akustische Orientierung wird ermöglicht.

VII. Siena wurde lange vor den neurowissenschaftlichen Debatten in Architektur und Städtebau zum Vorbild urbaner Möglichkeiten – in Erweiterung der DIN-Normen, wenn es um Anforderungen an die Rutschprävention ging. Idealerweise formt sich die Palette der Möglichkeiten im Austausch mit jener Gruppe, die von motorischen Einschränkungen betroffen sind. Hier muss die Definition von Barrierefreiheit die Hauptgruppen in den Fokus nehmen, um altersabhängige motorische Kompetenzen als Grundlage der Planung zu berücksichtigen.

Angesichts einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft sind dringend Räume und Umgebungen gefordert, die motorischen und kognitiven Anforderungen gerecht werden. Vertraute Umgebungen schenken im Alter Geborgenheit. Alterungsprozessen, ohne auffällige Krankheiten, kann entgegengewirkt werden, wenn Bewegung ins Zentrum der Planung gestellt wird. Von den Diskutanten in München wurde mehrfach darauf verwiesen, dass nur eine ganzheitliche Planung nicht nur für Menschen mit körperlichen Einschränkungen hilft. Würde und aufrechter Gang bedingen einander. Bedeutsam ist das Erlernen des aufrechten Ganges. Ihn zu fördern und zu bewahren, ist höchstes Planungsziel, denn wer im Alter einmal stürzt, wird meist wieder stürzen.

Stürze hinterlassen Spuren. Den Verlust des aufrechten Gangs gilt es zu verhindern, zumal dies unweigerlich mit Minderungen des Selbstwertgefühls einhergeht. Alter darf nicht als Bewegungsverlust erfahren werden, zumal motorische Einschränkungen Spuren in den Netzwerken unseres Gehirns hinterlassen. Es gilt, die Förderung motorischer Tätigkeiten durch attraktive Ruheplätze in geschützten Bereichen und auch im Außenbereich zu schaffen, um kognitive Kompetenzen zu fördern. Die Praxis zeigt, dass nur die Möbel genutzt werden, die Komfort versprechen. Bänke aus Metall und Stein sind ungeeignet, Holzmöbel werden gut genutzt.  

Angebote die sich auf die Mobilität beziehen, wie in der DIN 18040 festgelegt, bilden einen zentralen Förderungsschwerpunkt wie u.a. in Bayern. „Die Bayerische Staatsregierung unterstützt konsequent barrierefreies Bauen. Barrierefreiheit ist entscheidend für eine umfassende Teilhabe behinderter Menschen in der Gesellschaft im Sinne der UN-Behindertenkonvention. Mehr als 20 % der Bevölkerung ist zumindest zeitweise auf eine barrierefreie Umwelt angewiesen, im Hinblick auf den demographischen Wandel mit steigender Tendenz.“ (Bayerische Architektenkammer (Hg.), Barrierefreies Bauen, München, 2013).  

Zentral dabei ist „die Verbesserung der Orientierungsmöglichkeiten für sehbehinderte Menschen. Hier empfiehlt die DIN 18040-1, dass sich Bodenbeläge visuell kontrastierend von Bauteilen wie Wänden, Türen, Stützen abheben müssen, damit die Raumkanten leichter erfasst werden können. „Spiegelungen und Blendungen müssen vermieden werden, damit sehbehinderte Menschen nicht desorientiert werden. Sind glatte, glänzende Oberflächen gewünscht, ist auf eine geeignete Beleuchtung zu achten, beispielsweise gleichmäßig und indirekt.“ (ebd. S. 53)

Gut beschrieben ist die Beschaffenheit der Bodenbeläge, „im Gebäude (4.3.4 DIN 18040-1) müssen Bodenbeläge rutschhemmend […] und festverlegt sein und für die Benutzung z. B. für Rollstühle, Rollatoren und Gehilfen geeignet sein.“ Geeignet für die Nutzung mit Rollstühlen und Gehhilfen sind grundsätzlich alle glatten und ebenen Beläge, wie Natur-, und Kunststein- oder Keramikplatten, Linoleum, PVC oder auch textile Beläge. „Sie müssen fest verlegt sein, damit sich durch Dreh- und Wendebewegungen mit Rollstühlen oder Rollatoren diese sich nicht verschieben. Gehstöcke dürfen nicht einsinken. Ungeeignet sind hochflorige Teppichböden oder Teppiche.“ (ebd. S.52)

Die Bodengestaltung der Elbphilharmonie Hamburg zeigt ein gutes Beispiel, wie durch den Einsatz eines rutschsicheren Bodenbelages in Verbindung mit einem Orientierungsband, ein für Menschen mit eigeschränkten Sehfähigkeit ein sicheres Wegsystem angeboten werden kann.

VIII. Prävention von Stürzen sind in sämtlichen Lebensbereichen durch geeignete Bodenbeläge möglich und notwendig. Folgeschäden von Stürzen nehmen mit dem Alter zu. Körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit müssen von der Kindheit bis ins hohe Alter trainiert werden, um die Genesung nach Stürzen zu beschleunigen. Über 35 % aller Arbeitsunfälle beruhen auf Stürzen, daher sind Rutschhemmung und Rutschsicherheit das zentrale Thema einer auf gesunder Bewegung hin ausgerichteten Gestaltung von Räumen.

Lernen von Siena und den alten Baumeistern kann man viel. Wenn Übergänge der Bodenbeläge gut strukturiert und sichtbar sind, dann kann der ältere Mensch seine Schritte darauf einstellen. Auf diesem Weg entsteht eine Dramaturgie wechselnder Oberflächen, die idealerweise auch thermische Qualitäten aufweisen. Entscheidend für die Trittsicherheit ist dabei, dass die Übergänge mit ihren haptischen Qualitäten von den älteren Menschen intuitiv und sicher erfasst werden können. Denn nur wenn der sichere Gang gewährleistet ist, bleiben ältere Menschen lange in Bewegung und damit geistig wie motorisch gesund.

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