Hygiene

Antibiotika brauchen dringend Entwicklungshilfe

03.11.2021 - Seit vielen Jahren gehören die zunehmenden Resistenzen gegenüber Antibiotika zu den größten gesundheitlichen Bedrohungen unserer Zeit.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Der Missbrauch von Antibiotika in der Medizin und der Tierzucht hat die Zahl an Erregern, die gegen mehrere Wirkstoffe resistent geworden sind, deutlich ansteigen lassen. Schon heute sterben geschätzt weltweit mindestens 700.000 Menschen an Infektionen durch multiresistente Erreger, weil die Medikamente nicht mehr wirken. Ohne Forschung, so die Wissenschaftler, wäre man möglicherweise bis 2050 bei einer Zahl von zehn Mio. Toten. Auch die ökonomischen Schäden wären schlimm. Multiresistente Erreger breiten sich weltweit aus und könnten schon in der nahen Zukunft die sichere Behandlung von tödlichen Infektionskrankheiten bedrohen. Der dringenden Nachfrage an neuen antimikrobiellen Wirkstoffen steht jedoch ein eklatanter Mangel an Investitionen in ihrer Erforschung gegenüber.

Die internationale Forschungsallianz IRAADD stellt zukunftsweisende Strategien vor, mittels derer das Problem gelöst werden könnte. Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) sind federführend beteiligt. „Bakterien, die gegen mehrere Medikamente resistent sind, können zu einer ebenso großen Bedrohung werden wie die aktuelle Corona-Pandemie, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird“, erklärt Prof. Dr. Rolf Müller, Direktor des Helmholtz-Instituts für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS), einem Standort des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung, und DZIF-Koordinator für neue Antibiotika. „Während derzeit fast 4.000 Krebsmedikamente in der Entwicklung sind, befinden sich gegenwärtig nur 30 bis 40 neue antimikrobielle Wirkstoffe in der klinischen Prüfung.

Weniger als ein Viertel dieser Medikamente in der Entwicklungspipeline stellen eine neue Klasse von Wirkstoffen dar oder weisen neue Mechanismen auf“, betont Müller. Und keiner dieser Wirkstoffkandidaten sei gegen die von der WHO als prioritär eingestuften Erreger wirksam. Mit der Zunahme von Antibiotikaresistenzen wird der Ruf nach einer rationalen Antiinfektivaverordnung (Antibiotic Stewardship) lauter.  

Strategie für neue Wirkstoffe erforderlich

Ein Mikroorganismus wird als „suszeptibel, Standard-Dosierungsschema“ eingestuft, wenn die Wahrscheinlichkeit eines therapeutischen Erfolgs unter Verwendung eines Standard-Dosierungsschemas des Wirkstoffs hoch ist. Ein Mikroorganismus wird als „anfällige, erhöhte Exposition“ eingestuft, wenn die Wahrscheinlichkeit eines therapeutischen Erfolgs aufgrund einer Steigerung der Exposition gegenüber dem Wirkstoff durch Anpassung des Dosierungsschemas oder seiner Konzentration an der Infektionsstelle erhöht wird. Ein Mikroorganismus wird als „resistent“ eingestuft, wenn die Wahrscheinlichkeit eines therapeutischen Versagens hoch ist, selbst wenn die Exposition erhöht ist. Auch Antibiotika-Toleranz kann die Entwicklung von Resistenzen fördern, selbst unter Kombinationstherapien, die weit verbreitet sind, um solche Resistenzen zu verhindern.

Die internationale Allianz schlägt in ihrem Positionspapier sowohl kurzfristige als auch langfristige Lösungswege vor, um das Problem der Resistenzen nachhaltig anzugehen und die Pipeline zu füllen. Dabei sollen die Kräfte aus dem öffentlichen, dem akademischen und dem industriellen Sektor gebündelt werden. Drei große Themen werden im Positionspapier dargestellt: die Entdeckung von neuen Wirkstoffen auf der Basis von synthetischen, niedermolekularen Substanzen und ihre Optimierung bis hin zu klinischen Studien; als Zweites die Entwicklung von neuen Wirkstoffen auf Basis von Naturstoffen, deren Erfolg insbesondere von neuen innovativen Verfahren abhängen wird, und drittens die möglichen Hemmnisse und die Optimierungsmöglichkeiten vom Wirkstoffkandidaten zum Medikament. „Was wir vorschlagen in diesem Positionspapier, geht weit über einzelne Maßnahmen für die Forschung hinaus“, erklärt Rolf Müller. „Wir planen eine ganz neue Dimension der Interaktion zwischen den verschiedenen Stakeholdern und den akademischen Disziplinen rund um das Thema AMR.“ Nur so könne die Gefahr der steigenden Todeszahlen durch Infektionen gebannt werden.

Entwicklung langsam und kraftlos

Bei vielen Infektionskrankheiten kann man in der Alltagspraxis nicht unterscheiden zwischen bakteriellen oder viralen Infekten. Am Beispiel eines grippalen Infektes sind in vielleicht 90 % Viren ursächlich, gegen die Antibiotika wirkungslos sind. Trotzdem werden in Arztpraxen bei grippalen Infekten oft Antibiotika verschrieben, weil Ärzte befürchten, es könnte sich um die wenigen Ausnahmen einer bakteriellen Ursache handeln oder der Patient könnte eine bakterielle Lungenentzündung entwickeln. Immerhin wird seit 50 Jahren darüber diskutiert, dass ein nennenswerter Teil der Antibiotikaga­ben unnötig oder ungezielt sei und dies ein Hauptfaktor für die zunehmenden Resistenzen sei.

Um diese negative Entwicklung zu verlangsamen oder sogar umzukehren, wurde in der Humanmedizin eine Reihe von Maßnahmen entwickelt und umgesetzt, die im englischen Sprachraum als „antimicrobial stewardship“ oder als „antibiotic stewardship“ bezeichnet werden. Diese an sich synonymen Begriffe benennen prinzipiell zwei Seiten einer Medaille: einerseits das Resistenzproblem und andererseits den hierfür verantwortlichen Antibiotikaeinsatz. Die Entwicklung neuer Antibiotika sei laut WHO viel zu langsam. Rückläufige Investitionen und mangelnde Innovation bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe untergraben die Bemühungen zur Bekämpfung multiresistenter Infektionen, heißt es in einer Meldung. Insbesondere gramnegative Bakterien wie Acinetobacter baumannii, Pseudomonas aeruginosa und Enterobacteriaceae stellen eine wachsende Gefahr für die menschliche Gesundheit dar. Die Berichte weisen laut WHO auf eine besorgniserregende Lücke in der Aktivität gegen das hochresistente Carbapenem-spaltende Enzym NDM-1 (New Delhi Metallo-beta-Lactamase 1) hin. NDM-1 macht Bakterien gegen eine breite Palette von Antibiotika resistent, darunter auch gegen solche aus der Carbapenem-Familie, die heute die letzte Therapiemöglichkeit gegen antibiotikaresistente bakterielle Infektionen darstellen.

Verordnung mit Verantwortung

Natürlich können Argumente nicht pauschalisiert werden. Bei der Resistenzentwicklung gegenüber Antibiotika treten zahlreiche weitere Faktoren auf, unter anderem der übermäßige Gebrauch, insbesondere in der Landwirtschaft, und auch die Umweltstabilität eines Antibiotikums gehören dazu. Die EU-Tierarzneimittelverordnung 2019/6 wurde vor zwei Jahren verabschiedet. EU-Kommission, Mitgliedsstaaten und EU-Parlament müssen nun noch bis zum Inkrafttreten des Gesetzes im Januar 2022 festlegen, welche Antibiotika künftig für den Menschen vorbehalten und damit für die Tiermedizin verboten werden sollen. Im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des EU-Parlaments (ENVI) wurde Mitte Juli über einen von der Kommission dazu vorgelegten Verordnungsentwurf über „Kriterien für die Einstufung antimikrobieller Mittel, die für die Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten sind“ abgestimmt. Allerdings hat der ENVI den wissenschaftlichen Kommissionsvorschlag abgelehnt, obwohl der Vorschlag fachlich mit allen relevanten (wissenschaftlichen) Institutionen, also Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA), EFSA, ECDC, OIE und WHO, abgestimmt war. Wenn der im ENVI beschlossene Entschließungsantrag des verantwortlichen Berichterstatters (Grüne, Deutschland) nun auch im Europäischen Parlament eine Mehrheit findet, dann wäre ein komplettes Anwendungsverbot von Fluoroquinolonen, Cephalosporinen der 3. und 4. Generation, Polymyxinen und Ma­kroliden in der Tiermedizin kaum mehr abzuwenden. Von dem Anwendungsverbot wären alle Tierarten betroffen mit teils dramatischen Auswirkungen für die Therapie von Tieren.

Autor: Hans-Otto von Wietersheim, Bretten

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