Magersucht: Charité-Studie setzt auf die Familie
14.08.2025 - Magersucht ist mehr als nur gestörtes Essverhalten. Sie ist eine schwere psychische Erkrankung mit einer hohen Sterblichkeitsrate.
Ein neues Forschungsprojekt der Charité – Universitätsmedizin Berlin etabliert nun ein für Deutschland neues, international jedoch anerkanntes Verfahren: die „Familien-Basierte Therapie“ (FBT). Ob diese intensiv begleitete, ambulante Therapie für schwer Erkrankte ebenso wirksam sein kann wie die stationäre, multimodale Therapie wird derzeit in einer groß angelegten Studie untersucht.
Die Familien-Basierte Therapie ist ein in den USA und Großbritannien bereits etabliertes Verfahren. Bei der FBT werden die Eltern von Beginn an eng in den Heilungsprozess eingebunden. Ziel ist es, die Jugendlichen in ihrem gewohnten Umfeld zu stabilisieren – mit der Familie als Ressource. „Die FBT rückt die Familie als ein System in den Fokus, das in der Lage ist, die Krise gemeinsam zu meistern. Sie hilft den Eltern, ihren Kindern zu helfen, begleitet durch ein multiprofessionelles Team und evidenzbasiert“, erklärt PD Dr. Verena Haas die Idee dieser Therapieform. Gemeinsam mit Prof. Christoph Correll leitet sie die Studie an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité.
Im Familien-Team Verantwortung übernehmen – die Geschichte von Mirko
Für die Familien bedeutet diese Art der Therapie einen Perspektivwechsel: Während zu Beginn der Therapie in der Klinik oft Fachpersonal die Verantwortung für essensbezogene Entscheidungen übernimmt, sind bei der FBT an dieser Stelle die Eltern gefragt. Regelmäßige Sitzungen mit zertifizierten Therapeut*innen unterstützen die Familie dabei, auch wenn später die Betroffenen Schritt für Schritt wieder selbst die Verantwortung übernehmen. „Es war manchmal schon sehr anstrengend, aber ich wusste immer, wir schaffen das zusammen“, erinnert sich die Mutter von Mirko*, der vor einigen Jahren mit seiner Familie die FBT-Pilotstudie an der Charité durchlaufen hat.
Mirko blickt heute dankbar auf die Möglichkeit zurück, eine FBT erhalten zu haben: „Ich war immer unglücklich mit meinem Körper, habe ständig Kalorien gezählt, jedes Gramm Gewicht beobachtet. Ich habe genau gemerkt, was ich da tue, aber ich alleine konnte nichts dagegen ausrichten. Umso glücklicher war ich, als wir diese Therapiemöglichkeit gefunden hatten.“
Teilnahme an Studienzentren in ganz Deutschland möglich
Mirko war 14 Jahre alt, als die Kinderärztin die Familie mit der Diagnose Magersucht konfrontiert hatte. „Es war ein Schock – aber wir waren auch erleichtert, endlich eine Erklärung für die Beschwerden von Mirko zu haben“, sagt seine Mutter. Bei ihrer Suche nach einer Behandlungsmöglichkeit für ihren Sohn stieß sie schließlich auf die FBT, die zu der Zeit an der Charité etabliert wurde. Die Pilotstudie zeigte vielversprechende Ergebnisse und legte den Grundstein für eine groß angelegte, deutschlandweite Untersuchung: die FIAT-Studie.
FIAT steht für Familien-basierte telemedizinische versus Institutionelle Anorexia nervosa Therapie und ist die bisher größte Untersuchung, die die FBT mit der in Deutschland üblichen stationären multimodalen Therapie vergleicht. 200 Familien können an 20 Studienzentren teilnehmen. Dabei wird die Familie per Zufallsverfahren entweder der stationären Therapie oder der FBT zugeteilt und die FBT telemedizinisch durchgeführt. Ziel ist es, zu zeigen, dass die FBT der stationären Therapie ebenbürtig sein kann. Die Studie untersucht die Gewichtsentwicklung der Jugendlichen über einen Zeitraum von zwölf Monaten. Daneben werden psychische Stabilität, Lebensqualität, familiäre Belastung und die Zufriedenheit mit der Behandlung sowie Behandlungskosten untersucht.
Im Rahmen der FIAT-Studie werden schwer erkrankte Patientinnen und Patienten behandelt, für die eine stationäre Behandlung vorgesehen ist. Bleibt nach der Aufnahme in die ambulante FBT der Erfolg aus, kann die Therapie schrittweise intensiviert werden, bis hin zu einer kurzzeitigen stationären Stabilisierung. Hilft die FBT nicht ausreichend, wird sie beendet und eine vollstationäre Behandlung eingeleitet. Dieses engmaschige Sicherheitsnetz minimiert das Risiko langanhaltenden Untergewichts als Ursache einer Chronifizierung der Erkrankung. „Dieses Vorgehen nennt sich Stepped Care und hat sich in anderen FBT-Studien bewährt“, erklärt Studienleiterin Haas.
Zusammen durch Höhen und Tiefen
Mirko war nach sechs Monaten FBT „über den Berg“, wie seine Mutter sagt – sein Gewicht hatte sich auf einem gesunden Level stabilisiert. Bis es soweit war, hatte die Familie mit einigen Auf- und Ab-Phasen zu kämpfen. „Mein Körper war an diese Nahrung nicht gewöhnt, ich war sofort satt und musste trotzdem ständig essen. Als ich dann zugenommen habe, war ich erst ziemlich unglücklich, denn ich habe meinen Körper völlig verzerrt wahrgenommen. Wenn ich heute Bilder aus dieser Zeit sehe, erschrecke ich darüber, wie dünn und krank ich ausgesehen habe – und trotzdem habe ich mich dick gefühlt.“
So manches Mal war er deshalb wütend und frustriert. „Das hat aber nicht dazu geführt, dass ich einen Hass auf meine Eltern entwickelt hätte – ich wusste die ganze Zeit, dass sie mir helfen wollten.“ Unterstützung fand Mirko auch bei seiner FBT-Therapeutin, die Gespräche mit ihr seien für ihn essenziell gewesen. Heute sagt er von sich selbst, dass er nicht mehr magersüchtig sei – und Frieden mit seinem Körper geschlossen habe: „Ich hasse meinen Körper nicht mehr“.
Ziel: Ambulante Therapie im Gesundheitssystem etablieren
Noch bis mindestens Mitte 2026 können Betroffene in die Studie aufgenommen werden. Sollte die Studie die gleiche Wirksamkeit wie die stationäre Behandlung nachweisen, könnte die FBT künftig von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden. „Wir sind zuversichtlich, dass die FIAT-Studie zeigen wird, dass die FBT für viele Familien eine effektive und lebensnahe Alternative zur stationären Behandlung sein kann“, ist sich Verena Haas sicher.
*Name geändert